George
„Es gibt kein Recht auf Glück“, schrieb George Eliot, als sie noch Mary Anne Evans hieß, und dabei blieb sie auch als berühmte Autorin. In Middlemarch, einer aus vielen Fäden verwobenen menschlichen Tragödie, die sie in prächtigem Understatement „Eine Studie über das Leben in der Provinz“ um 1830 nennt, geht es ums Ganze: um das Scheitern großer Lebensentwürfe, das Ersticken weiblicher Belange und die schleichende Verzweiflung, die über tausend Seiten die Fühlenden angesichts der Unabwendbarkeit ihres Schicksals erfasst. Glück wird darin nur in kleinen Portionen ausgeschenkt.
Es dauert eine Zeit, bis der Leser merkt, dass es ernst wird, denn Eliots auktoriale Stimme – barmherzig, allwissend, ironisch bis zur Karikatur – bringt eine Reihe wundervoller Figuren zum Tanzen: Dorothea Brooke, 19, von Idealen beseelt, naiv und durchweg humorlos; Mr. Casaubon, der seit 30 Jahren sein monumentales Schlüsselwerk ordnet; sein Gegenpart, der törichte Landadelige Mr. Brooke, der sich weder in seinen Notizen noch in seinem Wuschelhirn zurechtfindet; der fromme Bankier Bulstrode, den die Schuld an einem stillen Mord zu Fall bringt; die „kultivierte Meerjungfrau“ Rosamond, die nur dem eigenen Willen gehorcht; der Schmarotzer Raffles, der sich selbst sein Grab schaufelt.
Dorothea Brooke, die glaubt, an der Seite eines gelehrten Mannes Erfüllung zu finden, verehrt Mr. Casaubon, der wiederum „den Trost weiblicher Zärtlichkeit für seine Jahre des Verfalls zu sichern“ gedenkt. Eliot treibt die beiden in eine vernunft- und von seiner Seite lieblose Ehe, in der Dorothea sich eingestehen muss, dass ihr Mann kein brillanter Kopf, sondern ein unglücklicher Pedant ist, der sein Werk niemals vollenden wird.
Ihr Schicksalsfaden ist mit dem des jungen Arztes Tertius Lydgate verknüpft, ein Fremder, der sich mit seinen modernen medizinischen Methoden in der Provinz zu viele Feinde macht. Klug und stolz, von den Ideen der französischen Sozialisten erwärmt – ohne „den Geruch von Angebranntem“ davonzutragen –, jedoch nicht klug und modern genug, verfällt er in seiner Herzensdummheit der koketten Rosamond Vincy. Denn für Lydgate „gehörte es zu den schönsten Geisteshaltungen bei einer Frau, wenn sie die Überlegenheit eines Mannes anbetete, ohne dass sie allzu genau wusste, worin sie bestand.“
Dorothea und Lydgate, die füreinander geschaffen scheinen, dürfen romantechnisch nicht zusammenfinden. Casaubons Tod befreit die junge Frau, aber sein Groll bringt sie und Will Ladislaw – noch ein in Middlemarch verdächtiger Fremder – fast um ihr Glück – wenn es das ist. The lad’s will is law, und Dorothea beugt sich erneut als Stütze männlichen Ehrgeizes. Lydgate wiederum wird zu der Figur, die er verabscheut: ein erfolgreicher Modearzt, gebunden an eine kalte Frau.
Ein redlich erworbenes Happy End erfahren allein die patente Mary Garth und Fred Vincy, ein zur Arbeit bekehrter Luftikus. Es ist ein Fingerhut voll Glück, das leicht nach Zuckerwasser schmeckt.
Die ZEIT Sonderausgabe, 100 Bücher, ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur, 25. 11.2023
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